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18. Mai 2020

Espressotrinken in Neapel – was ist ein "caffè sospeso"?

Es gibt in Italien keine andere italienische Stadt, die kreativer und erfinderischer als Neapel ist. Mit Neapel und den Neapolitanern verbindet man den Vesuv, das Meer, das schöne Chaos in den engen Gassen der Innenstadt, die allgegenwärtige Pizza und selbstverständlich den neapolitanischen Kaffee, il caffè, einen Espresso selbstverständlich ...

Espressotrinken in Neapel – was ist ein "caffè sospeso"?

Es gibt in Italien keine andere italienische Stadt, die kreativer und erfinderischer als Neapel ist. Mit Neapel und den Neapolitanern verbindet man den Vesuv, das Meer, das schöne Chaos in den engen Gassen der Innenstadt, die allgegenwärtige Pizza und selbstverständlich den neapolitanischen Kaffee, il caffè, einen Espresso selbstverständlich.

Es gibt in Neapel eine Kaffee-Tradition, die die wenigsten von uns kennen: den sogenannten caffè sospeso. Was heißt „caffè sospeso“ überhaupt und was verbirgt sich hinter dem Begriff eines „Espresso in der Warteschleife“ oder „aufgeschobenen Espresso“. In unserem Blogpost verraten wir Ihnen die fantasievolle Erfindung von einem Volk, den Neapolitanern, deren Kreativität gar keine Grenzen kennt. Im positiven und negativen Sinne zugleich.

Der „aufgeschobene“ Espresso (auf Neapolitanisch „o café suspiso“ – auf Hochitalienisch „il caffè sospeso“) ist nichts Anderes als ein Espresso, den man in einer „bar“ (Café) in Neapel zahlt, ohne dass der Gast ihn trinkt. Ja, wir zahlen zwar für zwei Espressi, getrunken wird jedoch nur ein Espresso. Wozu das Ganze?

Die Antwort ist sehr einfach: Einen Espresso trinken wir und ein zweiter Espresso wird bezahlt und demjenigen verschenkt, der sich keinen Espresso leisten kann. Es ist keine Abzocke, kein neapolitanischer Schwindel für Touristen, um an unser Geld zu kommen, sondern nur eine Geste, ein Akt der Nächstenliebe. Solidarität für einen bedürftigen, mittellosen Gast, der sich in der „bar“ keinen Espresso leisten kann. Ich spendiere für einen unbekannten, armen Menschen einen Espresso im Voraus, ohne dass ich den Gast kenne. So was kann es nur in Italien geben und – vor allem – in Neapel, werden die meisten denken. Wir gehen sozusagen in Vorleistung: Der Espresso ist bereits bezahlt und der Genuss, d.h. das Espressotrinken wird nur im wahrsten Sinne des Wortes „aufgeschoben“.

Aber woher stammt diese Gepflogenheit und wie ist diese entstanden? Es gibt zwei Denkschulen in dieser Beziehung. Nach der ersten Denkschule entstand der „caffè sospeso“ während des Zweiten Weltkriegs: Derjenige, der sich in der Kriegs- bzw. Krisenzeit leisten konnte, überließ demjenigen, der den Espresso nicht kaufen konnte, einen im Voraus bezahlten Espresso.

Nach der zweiten Denkschule scheint die Entstehungsgeschichte weniger wahrscheinlich, dennoch recht merkwürdig. Oft kommt es beim Kaffeetrinken in Gesellschaft von Freunden in der lauten „bar“ zu Verwirrung darüber, wer einen Espresso getrunken hat und wer nicht. Der Barista am Tresen kann daher mehrere Espressi in Rechnung stellen, die eigentlich nicht getrunken wurden. Die Gäste verlangen kein Restgeld, sondern lassen es im Café für die Zukunft zurückliegen, falls sich jemand keinen Espresso leisten konnte.

So beschreibt der italienische Schriftsteller und Philosoph Luciano De Crescenzo den „caffè sospeso“ in einem seiner Bücher (Quelle → hier):

>>Wenn ein Neapolitaner aus irgendeinem Grund glücklich ist, bezahlt er nicht nur für einen Espresso, den er trinken würde, sondern für zwei, einen für sich selbst und einen für den Kunden, der als nächstes dran kommt. Es ist so, als würde man dem Rest der Welt einen Espresso spendieren.<<

Italiener und Espressotrinken: Irgendwie ist der Kaffeegenuss im Bel Paese nicht wegzudenken. Auch am heutigen Tag (18. Mai 2020), an dem Tag, an dem die sogenannte „Phase 2“ („fase 2“) in Italien nach einem 53-tägigen Lockdown (10.03.2020 – 03.05.2020) mit der Wiedereröffnung von Bars, Restaurants und Friseurläden richtig in Schwung kommt, ereignet sich in einem süditalienischen Café ein bemerkenswerter Fall, der ausgerechnet mit dem Espressotrinken zu tun hat, wie die italienische Tageszeitung „La Repubblica“ → hier berichtet:

Der Gast zieht es vor, anonym zu bleiben, denn was zählt, ist die Geste, die mit dem Herzen gemacht wird. Er bestellt seinen langersehnten Espresso in der „bar“ zum ersten Mal nach dem Lockdown, gibt einen 50-Euro-Schein an der Kasse ab, will aber den Rest nicht. Das Retourgeld ist nämlich für die ganzen Espressi, die er in der Lockdown-Zeit nicht trinken konnte. Eine Art „caffè sospeso“ für die „bar“ selbst im Wert von 50 Euro.

Hier geht es zum Video


In diesem Sinne genießen Sie Ihren Espresso umso mehr, wenn Sie nächstes Mal einen trinken und denken Sie vielleicht dabei an diejenigen, die sich diesen kleinen Luxus nicht leisten können. Es sind oft die ganz kleinen Alltagsgesten wie Espressotrinken, die das Leben lebenswert machen.